Zum 125-jährigen Bestehen der Bahnhofsmission: Warum sie der wichtigste Zufluchtsort der Stadt ist

Ich bin auf Gleis 9/12 am Hauptbahnhof in Münster. Heute bin ich nicht hier, weil ich mit den Zug fahren will - zugegeben: ich bin gerade mit dem Zug auf Gleis 3 angekommen -, sondern ich bin mit Christine Kockmann-Surmann verabredet. Sie ist die Leitung der Bahnhofsmission Münster.
Ich gehe das Gleis 9/12 entlang und komme zu einem kleinen Backstein-Bungalow. Der Bahnhof ist in den letzten Jahren renoviert worden und es wirkt auf mich so, als wäre nur dieses kleine viereckige Häuschen stehen geblieben. Ich gehe rein. Im Eingangsbereich stehen hinter einer grünen Schrankwand ein paar Tische, einige Leute sitzen da, trinken Kaffee, unterhalten sich. Vor mir ist eine Tür mit einer Durchreiche. Ich werde freundlich begrüßt und gefragt, was man für mich tun könne. Ich melde mich an und werde rein gebeten. Mir wird ein Kaffee angeboten, ich muss dankend ablehnen, da ich auf dem Hinweg schon mehr als genug Koffein zu mir genommen habe und nicht zu hibbelig werden will. Während ich auf einer Bank auf Frau Kockmann-Surmann warte, reicht ein Mitarbeiter Kaffee und Stullen durch die Durchreiche an die Besucher*innen.



Frau Kockmann-Surmann bittet mich in ihr Büro, ich erzähle ihr, wieso ich da bin und ich frage sie, wieso sie da ist. Was hat sie zur Bahnhofsmission Münster gebracht? 

"Ich wollte hier überhaupt nicht hin." ist die erste Reaktion auf meine Frage. Das macht mich um so neugieriger, denn Frau Kockmann-Surmann ist bereits seit sieben Jahren Teil des Teams. Nach einem freiwilligen sozialen Jahr in Bethel - klein ist die Welt - hat sie sich dazu entschieden, Soziale Arbeit zu studieren. Seit ihrem 14. Lebensjahr hat sie mit Menschen mit geistiger Behinderung gearbeitet und nach ihrem FSJ war ihr klar: "Ich wollte immer was mit Menschen mit Behinderung machen."
Das hat sich spätestens dann geändert, als sie in einem Pflichtpraktikum im Studium der sozialen Arbeit an der KatHo (KFH) in Münster über Umwege bei der Bahnhofsmission gelandet ist. Denn schon am ersten Tag hat sie gemerkt: "Das war Liebe auf den ersten Blick." Mit einem Praktikum hat ihre Geschichte bei der Bahnhofsmission Münster angefangen, danach hat sie im Ehrenamt weiter gearbeitet, dann längere Zeit als Ehrenamtliche mit einer Aufwandsentschädigung, zwischendurch ausgesetzt, ist als Mitarbeiterin auf Honorarbasis wieder eingestiegen, hat drei Jahre als stellvertretende Leitung gearbeitet und schließlich die Funktion der Leitung übernommen. Nach insgesamt sieben Jahren macht sie die Arbeit immer noch gerne und das merke ich, als sie mir davon erzählt. 

"Die größte Spende ist die Zeit der Ehrenamtlichen."

Im Laufe der Jahre hat sich neben ihrer Funktion auch ihr Aufgabenfeld geändert. Mittlerweile sind nicht mehr die Besucher*innen, sondern vielmehr die Ehrenamtlichen ihr Klientel. "Ich bin  dafür zuständig, dass das Team gut eingearbeitet und qualifiziert ist, dass sie ihren Job gut machen können. Ich bin für die Außenwirkung zuständig, Öffentlichkeitsarbeit ist ganz wichtig. Ich bin in verschiedenen Arbeitskreisen und Gremien und vertrete die Bahnhofsmission Münster auf städtischer Ebene. Dann sind die Bahnhofsmissionen in Landesgruppen unterteilt. Es gibt einen Fachverband, da ist die Bahnhofsmission Münster auch. Und auf Bundesebene sind wir auch ganz gut und aktiv." Das Wichtigste sei das Ehrenamt und die Netzwerkarbeit vor Ort. "Und die Spendenakquise. Das ist ihnen sicher bekannt, dass die Bahnhofsmission auf Spenden angewiesen ist. Die größte Spende ist die Zeit der Ehrenamtlichen hier. Wir haben das mal für 2017 ausgerechnet: Wir hatten über 13 Tsd. ehrenamtlich geleistete Stunden. Und das ist in dem letzten Jahr nicht weniger geworden, es wird tendenziell eher noch mehr."  

Transparenz und Demokratie als Führungsstil

Bei mittlerweile fast 70 Ehrenamtlichen stellt sich mir die Frage, wie das Verhältnis zwischen den ehrenamtlichen und den hauptamtlichen Mitarbeiter*innen ist. Frau Kockmann-Surmann beschreibt das Verhältnis als ziemlich gut und locker. "Sie können sich vorstellen, Entscheidungen mit 70 Leuten zu treffen ist schwierig. Aber ich habe einen ziemlich demokratischen Führungsstil. Es gibt beispielsweise einmal im Monat eine Team-Sitzung. Da gibt es auch immer mal eine kleine Rubrik, wo ich Ansagen mache. Das diskutieren wir dann nicht. Aber im Prinzip diskutieren wir hier alles." Sie erzählt mir davon, dass sie einem Praktikanten zu Beginn des Praktikums mal gesagt habe, es gäbe hier nicht so viele Hierarchien, woraufhin er zunächst gesagt hat "Du tickst doch wohl nicht ganz richtig", aber als er sein Praktikum beendet hat, feststellen musste "Das ist der Knaller, ich habe nicht gedacht, dass es sowas gibt." Aber es funktioniert. 
Neben Transparenz und Demokratie ist für Frau Kockmann-Surmann auch Lob wichtig für ein funktionierendes Team. "Wir machen so viele tolle Aktionen, so viele tolle Sachen auch miteinander."

"Wir sind nicht die mildtätigen Damen in der Kittelschürze."

Ich bin zum ersten Mal in diesem kleinen Backsteinhaus. Wenn ich vorher mal zu lange auf einen Zug warten musste, habe ich mich wie selbstverständlich zum Bäcker gesetzt oder eine Runde durch die Innenstadt gedreht. Aber wieso bin ich hier noch nicht gewesen? Die Atmosphäre ist einladend, die Stimmung gut. Woran liegt's? 
"Also viele denken ja nach wie vor - und ich schließe mich da nicht aus, mein erster Kontakt war ja auch nicht so positiv geprägt - wir sind die mildtätigen Damen in der Kittelschürze, die eine Suppe ausgeben. Und nein, das sind wir nicht. Wir sind nicht die mildtätigen Damen der Bahnhofsmission. Mit einem Satz kann man sagen: Jeder kann mit jedem Problem im Rahmen unserer Öffnungszeiten kommen. Da merken sie schon, das schließt eigentlich niemanden aus. Und genauso ist es. Im Prinzip sind wir Kirche am Bahnhof, Sozialstation, Sozialambulanz. Wir sind eine standortdefinierte Einrichtung, das macht es oft echt sehr interessant. Wir arbeiten niederschwellig, anonym. Und trotzdem kann man sagen, dass wir zwei große Aufgabenbereiche haben: Einmal alles, was mit Reisen, unterwegs sein, Mobilität zu tun hat. Wo wir Umstiegshilfen, Einstiegshilfen und die ganzen Nummern machen, Begleitung im Nahverkehr. Das macht aber tatsächlich nur 20-25 % aus. Das war früher deutlich mehr, die Verkehrsstation und der Bahnhof sind aber saniert worden und das merkt man: Es gibt ein Blindenleitsystem, Aufzüge, Rolltreppen, interaktive Fahrpläne usw. Die Leute brauchen uns an der Stelle nicht mehr, und das ist gut so!"

"Die Bahnhofsmission ist der Seismograf der Gesellschaft."

"Und der andere große Bereich ist all das, was hier vor Ort stattfindet." Vor Ort meint den Gastraum im Eingangsbereich. Da wo auch ich freundlich empfangen wurde, wird jede*r Besucher*in zu einem Getränk eingeladen, auf ein Butterbrot und auf ein Gespräch. Aus diesem Gespräch kann sich eine Beratung ergeben. Die Bahnhofsmission steht an dieser Stelle für Erstberatung und Weitervermittlung. "Wir können nicht längerfristig beraten. Dafür sind wir nicht ausgebildet. Wir vermitteln dann weiter. Wir merken gerade jetzt - der Bremerplatz ist ja zum Teil zurückgebaut worden - dass unsere Zahlen sehr steigend sind. Wir haben hier plötzlich auch mit ganz anderen Leuten zu tun. Das macht es gerade nicht so einfach an einigen Stellen. Aber die Bahnhofsmission ist total gut im Reagieren. Man sagt immer 'die Bahnhofsmission ist der Seismograf der Gesellschaft.' Wir merken hier ganz früh, was es für gesellschaftliche Veränderungen gibt. Die Leute, die kommen, sind häufig wohnungslos, obdachlos, oder davon bedroht, das sind Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, meistens auch anderen psychischen Erkrankungen, mit körperlichen Erkrankungen, immer mehr, die auf Grund ihres Migrationshintergrundes in einer prekären Lebenssituation sind, aus dem osteuropäischen Bereich vor allen Dingen, arme Menschen, einsame Menschen, Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Die kommen hier her."

Bewährte Traditionen

"Bahnhofsmission" Das ist mir direkt ein Begriff. Trotzdem frage ich Frau Kockmann-Surmann, ob der Name Mission heute noch so wirklich passt. "Das ist immer schwierig. Leute die neu zur Bahnhofsmission kommen fragen immer, ob wir das nicht ändern können. Aber nein, das können wir nicht. Das tun wir nicht, denn das wäre total verrückt. Die Bahnhofsmission ist die zweitbekannteste soziale Einrichtung nach der Telefonseelsorge." Dieses Jahr feiert die Bahnhofsmission ihren 125 jährigen Geburtstag. "Es gibt viele Dinge, die wir seit 125 Jahren tun. Und das immer noch gut. Bestimmte Dinge haben sich bewährt und das soll auch so bleiben."

"Jeder ist willkommen und kann kommen."

Ob es konkret benennbare, diakonische Anteile in der Bahnhofsmission Münster gibt, ist für Frau Kockmann-Surmann schwierig zu beantworten. "Im Grunde ist es der Dienst am Nächsten. Bahnhofsmission ist Kirche am Bahnhof und wir sind gelebte Kirche." Gelebte Kirche - wie kann ich mir das vorstellen? "Seelsorge muss nicht immer gleich so hoch aufgehangen sein. Das sind oft so Zwischen-Tür-und-Angel-Gespräche. Es geht ums Wahrnehmen der Personen. Die Menschen zu sehen, Zeit zu haben. Man braucht hier keinen Termin, man kann einfach kommen. Es braucht häufig den richtigen Menschen, damit Menschen sich öffnen. Und wenn das funktioniert - Beziehungsarbeit, Kontakt mit Menschen, Begegnung - dann merke ich immer: Dafür lohnt es sich."

Es gibt Ehrenamtliche, die aus dem theologischen Bereich kommen und ab und zu Andachten gestalten, andere leisten Seelsorge, indem sie da sind, den Menschen sehen und dem Menschen Gutes tun. "Wir leben Gottesdienst in unserem Tun. Wir fragen nicht 'Wollen Sie einen Kaffee oder Tee?' sondern 'Was kann ich Dir Gutes tun?' Und das ist es, was uns hier auch ausmacht. Dass wir so viel Zeit haben und die Menschen nehmen, wie sie sind. 


"So eine Professionalität wächst vor allen Dingen im Tun."

Die Arbeit in der Bahnhofsmission ist auf Grund ihres Standortes und der unterschiedlichen Menschen, die dort hinkommen, eine ganz besondere, einzigartige. Um dort tätig zu sein, braucht es viel Neugierde, Flexibilität und - wie in allen Berufen der sozialen Arbeit - den Mut zur Fehlbarkeit. Gerade für Berufseinsteiger*innen gilt das. "Das gilt glaube ich grund-weg: Den Hammer nicht so hoch aufhängen und sagen 'Ich bin Berufsanfänger, ich darf das. Ich darf nachfragen.' Ich finde es total wichtig, dass man sich als Anfänger auch zugestehen darf, dass man Fehler macht. Das ist normal. Und ich glaube, so eine Professionalität wächst vor allen Dingen im Tun. Sie wächst vor allem im Kontakt mit den Menschen." 

Frau Kockmann-Surmann beschreibt sehr bildhaft, was für sie das Essentiellste ist, was jemand mitbringen sollte, der oder die in der Bahnhofsmission tätig sein möchte: "Ich sage immer, ich habe ein Profi-Herz und ich habe mein privates Herz. Und tendenziell bin ich jemand, mit Löchern in der Aura und das geht immer alles direkt rein. Ich finde es wichtig, dass man das eine vom anderen unterscheidet und dass man sich aber gleichzeitig klar macht, wenn man beim privaten Herz so gar nicht mehr berührt wird, sollte man die Stelle wechseln oder sich grundsätzlich was ganz anderes suchen. Ich finde es wichtig, dass man auch weiterhin berührt ist."


Sie rät mir, wenn ich nochmal die Möglichkeit habe, während dem Studium ein Praktikum in der Bahnhofsmission zu machen, die Chance wahrzunehmen. Denn dort wird man mit allem konfrontiert, was die Gesellschaft zu bieten habe. "Man lernt, schnell zu schalten. Im einen Moment reicht ein Spender 500 € rein, der die Nase hier oben hat und im nächsten Moment hast du jemanden, der alles verloren hat und völlig außer sich ist, weil er auch noch stark entzügig ist." Sie zeigt auf eine Fotowand im Büro, wo einzelne Porträts hängen. "Ich überleg grad: soziale Arbeit, soziale Arbeit, soziale Arbeit, das ist der Kracher: VWL, soziale Arbeit, soziale Arbeit... also wir haben wirklich ganz viele, die mit einem Praktikum angefangen haben und hängen geblieben sind, weil das wirklich eine gute Möglichkeit ist, sich praktisch während dem Studium auszuprobieren." Wäre ich nicht schon auf der Zielgeraden meines Bachelors und hätte meine Praxisphasen noch vor mir, würde ich das wohl ernsthaft in Betracht ziehen. Was ich auf jeden Fall demnächst machen werde, ist, wenn die Bahn mal zu spät kommt oder ausfällt - und das dürfte nicht lange auf sich warten lassen - oder ich einfach ein nettes Gespräch suche, dass ich in der Bahnhofsmission vorbeischaue und dieses Mal den Kaffee trinke, den ich bei meinem letzten Besuch verweigert habe.

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