Interview mit dem betreuten Jugendwohnen Tor 6

Ich besuche Ruth Fehring in ihrem Büro im betreuten Jugendwohnen Tor 6 in Bielefeld. Relativ zentral, in der Nähe vom großen Real, ist der Gebäudekomplex, in dem mehrere Einzel-Appartements von Jugendlichen bewohnt werden. Zwischen ganz normalen Mieter*innen wohnen hier zurzeit 16 Jugendliche im Alter von 17 bis 22. 

Seit letztem Oktober ist Frau Fehring die Einrichtungsleitung des Tor 6, vorher war sie acht Jahre Teil des pädagogischen Teams. Mit 17 hat sie durch verschiedene Praktika die Arbeit im sozialen Bereich kennen gelernt und den Traum von einer Karriere als KFZ-Mechanikerin an den Nagel gehängt. In Bethel hat sie ihre Ausbildung am Berufskolleg gemacht und ist auch für die nächsten etwa 17 Jahre in Bethel geblieben. Dort hat sie im Kinder- und Jugendbereich gearbeitet, danach etwa 12 Jahre im VHS-Bildungswerk. "Ich hab immer in verschiedenen Zusammenhängen mit Jugendlichen gearbeitet: mit Jugendlichen mit und ohne Behinderung, in der Berufsfindung, im Übergang von Schule in Beruf und jetzt hier im betreuten Wohnen" erzählt mir Frau Fehring. 

Im Team der Einrichtung sind derzeit fünf pädagogische Fachkräfte und ein Hauswirtschafter tätig. Grundvoraussetzung für die Arbeit im Tor 6 ist ein abgeschlossenes Studium im sozialen Bereich. Im Moment studiert Ruth Fehring neben ihrer Tätigkeit als Einrichtungsleitung bei der FHM Sozialpädagogik und Management berufsbegleitend. Die Arbeitszeiten des Teams sind auf die Werktage begrenzt. "Wir arbeiten nicht nachts, nicht am Wochenende und nicht an Feiertagen" klärt mich Frau Fehring auf. Das ist besonders, denn dennoch ist es eine Einrichtung der stationären Jugendhilfe. "Im Grunde sind wir der letzte Schritt vor der Verselbstständigung in die eigene Wohnung."

Viele der Jugendlichen, die hier wohnen, haben psychische Erkrankungen, häufig mittelgradige bis schwere Depression, instabile Persönlichkeitsstörungen, Richtung Borderline sowie suizidale, selbstverletzende Tendenzen. Zudem haben einige der Jugendlichen Fluchterfahrungen und aufgrund dessen eine posttraumatische Belastungsstörung. Das war nicht immer so. Als Ruth Fehring 2010 anfängt, hier zu arbeiten, ist es eine klassische Einrichtung der stationären Jugendhilfe, "mittlerweile sind wir fast eine Fachabteilung für psychisch erkrankte junge Menschen". Da Krisen jetzt häufiger vorkommen als zuvor - und zwar auch in Zeiten, in denen das Büro nicht besetzt ist - ist ein wesentlicher Teil der Arbeit des pädagogischen Teams, die Jugendlichen auf den Umgang mit Notfällen vorzubereiten. "Welche Listen brauche ich? Welche Notrufnummern brauche ich? Was kann ich machen, wenn es mir nicht gut geht, wenn ich eine Krise habe?" Das sind Fragen, die zusammen mit den Jugendlichen beantwortet werden. Denn im Kern geht es um die Vorbereitung zur Verselbstständigung. Der Vertrauensaufbau steht im Mittelpunkt der Arbeit, vieles entsteht über Beziehung. 

Autonomie als Kern der Verselbstständigung

Die Jugendlichen wohnen allein in den Appartements und Autonomie ist ein wichtiger Bestandteil des Verständnisses von Verselbstständigung in der Einrichtung. Sie haben einen großen Verantwortungsspielraum und müssen ihre Gelder selbst wirtschaftlich einteilen. Das Betreuungsangebot gestaltet sich individuell, angepasst an die Bedürfnisse der Jugendlichen. Ebenso kann man sich auch die "Verselbstständigung" vorstellen. Manche Jugendliche sind gerade 16 geworden, brauchen mehr Unterstützung, andere sind schon selbstständiger und benötigen weniger Begleitung.

Genauso gibt es dieses Wohnangebot in Bielefeld nicht nochmal. Die Appartements sind immer besetzt, es gibt immer eine Warteliste. Dennoch sagt Frau Fehring, als ich sie Frage, ob es mehr solcher Einrichtungen im Raum Bielefeld geben sollte "Wir haben über Expansion nachgedacht, aber es macht im Moment keinen Sinn. Die Warteliste ist nie so lang, dass sie nicht mit hinnehmbaren Wartezeiten abgearbeitet werden kann und es ist uns wichtig, den Rahmen kleiner, familiärer zu halten." Aufgrund des komplexer gewordenen Klientels stehe es jetzt an erster Stelle, den Betreuungsschlüssel anzupassen. 

Begleitung auch nach dem Auszug

Nachdem Auszug aus dem Tor 6 in die eigene Wohnung besteht das Angebot einer ambulanten Nachbetreuung für ein halbes Jahr. In dieser Zeit werden die Jugendlichen meist bei der Antragstellung unterstützt, z.B. für das Jobcenter oder BAföG-Amt, je nachdem, was sie individuell benötigen. Ein "moralisches Angebot", wenn Probleme oder Unsicherheiten da sind, ist auch über die Nachbetreuungszeit hinausgegeben. Einmal im Jahr findet ein Treffen für ehemalige Bewohner*innen statt. 

Ich frage Ruth Fehring abschließend, was sie Berufsanfänger*innen mit auf den Weg geben würde. Sie antwortet:

"Im sozialen Bereich haben wir uns selbst als Handwerkszeug. Wir haben keine Zollstöcke, wir haben keine Werkzeuge. Wir haben unsere Persönlichkeit, die wir mitbringen. Und wir sollten auf einem professionellen Hintergrund wissen, uns einzusetzen. Wir sollten uns selbst gut kennen, wissen wo Punkte sind, die uns triggern. Und ganz offen den Menschen begegnen, denen wir auf der Arbeit begegnen. Die Begegnung auf Augenhöhe, das Respektieren der Lebenswelten der jungen Menschen und dass man nicht von oben herab die Arbeit macht, sondern mit ihnen zusammen - Ich hab' jetzt über 34 Jahre Berufserfahrung und das ist eigentlich der einzig gangbare Weg."




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